Naturgemäßes Saat- und Pflanzgut

Noch vor einem Jahrhundert waren keine Anstrengungen erforderlich, um auf einer unbewachsenen Fläche artenreiche Wiesen zu erzielen. Es genügte meist, sie den natürlichen Prozessen der Besiedelung anzuvertrauen: Die unmittelbar benachbarte Artenvielfalt wanderte von sich aus in die Fläche ein. Weidende Rinder, Pferde oder Schafe brachten Samen auch von entfernter liegenden Flächen. Heute dagegen funktioniert so etwas nur noch im Ausnahmefall. Der Großteil der erwünschten und geeigneten Wildpflanzen lebt auf abgelegenen, isolierten Restflächen und hat Früchte oder Samen, die keine größeren Entfernungen überwinden können. Artenreichere, buntere Lebensräume erfordern daher, dass nicht nur geeignete nährstoffärmere Standorte hergestellt, sondern auch die Ausbreitungseinheiten (Früchte, Samen, Brutzwiebeln, Ausläufer) künstlich herangeschafft werden. Bisher ist es üblich, sich überall im Handel angebotener Saatgutmischungen zu bedienen, doch damit werden oft Chancen für eine natürliche Pflanzendecke verspielt und neue Probleme erzeugt.

Wiesen oder Blühflächen?

Dem Mangel unserer heutigen Landschaften an artenreichen Lebensräumen können Blühmischungen nur teilweise abhelfen. Das für unser menschliches Auge und unsere Seele offensichtlichste Manko wird zwar behoben, indem mehr Farbe, d. h. mehr Blüten in die Landschaft eingebracht werden. Viele unserer heimischen Insektenarten leiden aber nicht nur unter Nektar- und Pollenmangel. So benötigen Schmetterlinge ihre artspezifischen Raupenfutterpflanzen, holz- und bodenbrütende Wildbienen brauchen Totholz und ungestörte Erdflächen, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Anlage von Blühflächen ist besonders für Flächen geeignet, die nach mehreren Jahren wieder als Acker genutzt werden müssen. Sie sind eine Nothilfe für die Tiere in unserer verarmten Landschaft. Da Blühflächen meist nur wenige Jahre bestehen, sollte unser Bemühen aber dahin gehen, Lebensräume zu schaffen, die von Dauer sind. Wiesen beherbergen ein breites Spektrum an Pflanzenarten und sind seit Jahrhunderten für viele Tiere mit all ihren Entwicklungsstadien ein geeigneter Lebensraum. Deshalb sind Wiesen die langfristig und naturschutzfachlich optimale Flächennutzung und Bienenweide.

Die Beschränkung auf nur „einheimische Arten“ genügt nicht

Bekanntlich sind neben vielen Pilzen auch zahlreiche Tierarten eng an bestimmte Pflanzen gebunden, wie z. B. Wildbienen und Schmetterlinge. Die traditionell in einem Raum vorkommenden Pflanzen bestimmen daher in hohem Maß, welche der vielen Insektenarten dort leben können. Es ist nicht zuletzt aus diesem Grund längst üblich, bei Begrünungen in der freien Landschaft ausschließlich heimische Pflanzenarten zu verwenden.

Inzwischen weiß man aber, dass es nicht genügt, nur auf die Arten zu achten: Innerhalb ihrer meist recht großen, viele Länder umfassenden Verbreitungsgebiete haben sich im Laufe der Evolution besonders unter dem Einfluss abweichender Klima- und Bodenverhältnisse ganz unterschiedliche Typen herausgebildet, die oft als Unterarten oder Varietäten gefasst werden können, oft aber lediglich unbenannte Öko- bzw. Genotypen darstellen. Auch historische Verbreitungswege und bestimmte Nutzungstypen (z. B. Futterwiese, Weide, Streuwiese) führten zu Pflanzentypen unterschiedlicher genetischer Ausstattung. Sie sind nun an die Standortverhältnisse vor Ort besonders gut angepasst. Meist unterscheiden sie sich nicht nur genetisch, sondern auch in optisch wahrnehmbaren Merkmalen oder den Mengenverhältnissen ihrer Inhaltsstoffe. Für die abhängigen Tiere noch wichtiger als diese ist die Phänologie der Pflanze, besonders der Zeitpunkt des Austriebs, des Blühens und Fruchtens. Da sich Tiere, Pilze und Pflanzen wechselseitig angepasst haben (Koevolution), besitzen Pflanzen heimischer Arten, aber fremder Herkunft, oftmals abweichende Entwicklungsrhythmen und weitere Eigenschaften, die zumindest ihren Wert als Wirtspflanzen für die Tierwelt am Ausbringungsort schmälern. Ein anschauliches Beispiel ist hier die Wiesen-Margerite, deren nord- und süddeutsche Populationen sich laut dem Wildpflanzensaatgut-Spezialisten Rieger & Hofmann bei gleichem Aussehen um etwa zwei bis drei Wochen im Beginn ihrer Blütezeit unterscheiden.

Das internationale Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt von Rio de Janeiro aus dem Jahr 1992 verpflichtet uns ausdrücklich, auch die erwähnte innerartliche Vielfalt zu sichern¹. Durch die Vermischung unterschiedlicher Herkünfte wird sie bedroht. Zu schützen ist sie am einfachsten, indem man das Pflanz- und Saatgut von Wildpflanzen der Gegend gewinnt, für die es bestimmt ist, das heißt, autochthones (vom Ort stammendes, „gebietsbürtiges“) Pflanzenmaterial verwendet².

Minimalstandard für die freie Landschaft: Regiosaatgut

Viele Pflanzen sind zumindest in bestimmten Regionen traditionell häufig und durchgehend verbreitet oder waren dies bis ins Industriezeitalter hinein. Sofern solche Pflanzen keine deutlichen genetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Landschaften aufweisen, können Abstammungs- und Ausbringungsort ohne Gefahr relativ weit auseinander liegen, also innerhalb recht großer Räume. Da es aber nicht praktikabel ist, den von Art zu Art unterschiedlich weiten Spielraum zugrunde zu legen, hat man für alle einheitliche Herkunftsregionen festgelegt. Es sind dies durch das Zusammenfassen ähnlicher Naturräume entstandene Einheiten – nach den Ergebnissen der Arbeitsgruppe „Regiosaatgut“ in Deutschland insgesamt 22.

Für die einzelnen Herkunftsregionen wurden Listen jener krautigen Pflanzen erstellt, die darin an jedem beliebigen Punkt geerntet und ausgebracht werden können. Diese „Positivlisten“ sind unter dem Punkt „Artenfilter“ im Internet einsehbar³. Sie enthalten überdies eine Spalte, die aufzeigt, welche der Pflanzen tatsächlich auch regulär von den Produzenten solchen „Regiosaatguts“ vermehrt werden. Wer selbst Mischungen zusammenstellen will, tut gut daran, sich auf die Arten guter Verfügbarkeit zu beschränken. In der Regel ist es aber nicht nötig, individuelle Mischungen zu kreieren: Für die wichtigsten Grünlandtypen – kalkreiche oder kalkarme Magerrasen, Frisch-, Feucht- und Schattenwiesen aus Regiosaatgut – gibt es vorgefertigte Rezepturen; für erste Herkunftsregionen sind solche autochthonen Fertigmischungen bereits als Regiomischungen lieferbar.

Kurzfristig sollen solche Ansaatmischungen aus regionsbezogen autochthonem Material in der freien Landschaft das bisher übliche, meist aus Fremdware bestehende, klassische Handelssaatgut ersetzen und den Mindeststandard für Begrünungen definieren.

Tipp: Auch beim Kauf autochthonen Saatguts ist es wichtig, auf bestimmte Qualitätsmerkmale zu achten. Dazu gehört in erster Linie, dass es über ein Zertifikat verfügt, welches die Abstammung des Saatguts von Wildpflanzen der gewünschten Herkunftsregion garantiert. Bisher sind mit VWW-Regiosaaten® und RegioZert® zwei Zertifizierungen auf dem Markt.

Regiomischungen können natürlich nur ein Grundgerüst an Arten bieten. Ihr Wert kann wesentlich dadurch erhöht werden, dass Samen attraktiver Arten in der näheren Umgebung gesammelt und beigemischt oder nachträglich eingebracht werden.

Herkunftsregionen von Regiosaatgut nach VWW Regiosaaten. Quelle: www.vww.de

Handaufsammlung für hohe Qualität

Die Mehrzahl unserer Wildpflanzenarten ist eher selten, auf kleinere Räume beschränkt oder genetisch recht komplex. Nur ausnahmsweise bietet der Handel davon akzeptables Saatgut aus dem Nahraum. Heute gilt daher nicht mehr der Appell, attraktive Wildpflanzen aus dem Gartenhandel zu beziehen und die „Natur“ gefälligst in Ruhe zu lassen. Ganz im Gegenteil: Wir sollten vom Kauf von Schlüsselblumen- und Baldrian-Töpfchen, von Kornblumen- und Blumenwiesenansaat-Tütchen absehen, denn dafür gilt all das Negative, was oben zu Fremdherkünften gesagt worden ist. Wir müssen stattdessen wieder in die Landschaft hinausgehen. Selbst kleinere Biotopreste bieten immer noch eine sehr attraktive Wildflora!

Man sollte daher mit wachen Augen durch die heimische Flur streifen und sich merken, wo interessante oder reizvolle Wildpflanzen wachsen! Wenn die Pflanzen Diasporen gebildet haben, sammelt man diese – natürlich maßvoll, ohne den Fortbestand der Spenderpflanzen zu gefährden und unter Beachtung von Schutzbestimmungen. Das Entfernen und Versetzen der Mutterpflanzen durch Ausgraben muss natürlich unterbleiben.

Man braucht dabei auch um Seltenes keinen Bogen machen, besteht doch die Chance, es zu vermehren. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass diese Chance realistisch ist. Das eigenhändige Samensammeln vor Ort hilft auch, dies abzuschätzen; sieht man doch, unter welchen Standortbedingungen die Pflanzenart gedeiht. Neben der fallweisen Stützung seltener oder selten gewordener Pflanzen ist die Diasporengewinnung vor Ort selbstredend optimal für die Weitergabe der landschaftsspezifischen genetischen Ausstattung und damit für die Bewahrung der innerartlichen Vielfalt. – Um diese Ziele zu erreichen, sollten möglichst viele Pflanzen einer Art beerntet werden, um ein möglichst breites genetisches Spektrum zu erfassen, denn dessen Bandbreite entscheidet über die Anpassungsfähigkeit und damit Überlebenswahrscheinlichkeit eines Pflanzenvorkommens.

Naturgemische für biologische Vielfalt

Regiosaatgut-Mischungen aus dem Handel haben den Vorteil, dass in sie der Erfahrungsschatz der Pflanzenvermehrer eingeflossen ist. Sie haben garantierten Keimungserfolg, laufen bald nach der Aussaat auf und blühen schon im ersten Jahr attraktiv. Artenreichere, in ihrem Arteninventar höherwertige und zugleich landschaftsspezifische Begrünungen können jedoch nur mit sogenannten „Naturgemischen“ erzielt werden.

Es gibt mehrere bewährte Verfahren, um die Diasporen aus den Spenderbiotopen zu gewinnen und auf die zu entwickelnden Empfängerflächen zu übertragen. Von der Verwendung von Rechengut abgesehen (vgl. „Anspruchsvolle Begrünungen mittels Rechengut“), bildet samenreiches und damit relativ spät gewonnenes Schnittgut die Basis („Schaffung artenreicher Wiesen durch Mähgutübertragung“). Es kann frisch oder als Heu ausgebracht werden. „Heumulch“ hat den Vorteil der Lagerfähigkeit, doch gehen bei den Verarbeitungsschritten oft viele Diasporen verloren.

Sehr interessant können durch Ausdreschen von frischem Schnittgut oder Heu gewonnene Samenkonzentrate sein (Druschgut). So kann das Druschgut von verschiedenen Mahdzeitpunkten und Flächen zu einem wirklich „runden“ Produkt gemischt werden. Es ist wie Handelssaatgut lagerfähig und damit rund ums Jahr verwendbar. Bei professionellen Anbietern werden sogar Keimungsgarantien gegeben.

Im Idealfall enthalten Naturgemische Samen all der Arten, die eine Spenderfläche zu einem schutzwürdigen Biotop machen – zu einem Magerrasen, einer Streuwiese, einer artenreichen Feucht- oder Frischwiese, also kurz zu einem Lebensraum, dessen Aufwuchs unter den heutigen Bedingungen eigentlich zum Verfüttern an Nutztiere zu kostbar ist, kann er doch Ausgangspunkt für großartige Biotop-Neuanlagen sein. Naturgemische vermögen damit artenreiche Lebensgemeinschaften zu entwickeln, die auch seltenen und bedrohten Pflanzen und Tieren eine Heimat bieten. Naturgemische leisten also einen überaus gewichtigen Beitrag zur Bewahrung und Förderung der biologischen Vielfalt im Offenland.

Grundsätzlich ist die Begrünung mit Naturgemischen nicht nur im Ergebnis, sondern auch von der Methode her anspruchsvoll. Wie wertvoll der neue Wiesen-Lebensraum „aus dem Stand“ wird, hängt zu einem erheblichen Teil von der Erfahrung und dem Fingerspitzengefühl der Mitwirkenden ab. Doch auch Geduld ist gefragt: Es ist wahrscheinlich, dass sich erst nach drei bis fünf Jahren alle übertragenen Arten zeigen und jeder Interessierte sich von der lohnenden Maßnahme überzeugen kann.

Zentral für den Erfolg von Begrünungen mit anspruchsvollen Naturgemischen ist die Standortvorbereitung der Empfängerfläche. Mageres, von aufgedüngtem Oberboden befreites Substrat, führt zu den besten Ergebnissen – ein einmaliger Aufwand für nachhaltige Qualität. Zudem ist die richtige Pflege meist ebenso wichtig wie Vorbereitung und Durchführung der Ansaat.

Ein wichtiger Hinweis: Bei allen Naturgemischen sollen die Spender- und Empfängerflächen in derselben Gemeinde liegen, da sich die Zusammensetzung der Pflanzendecke mit zunehmender Entfernung ändert und somit die Gefahr von Florenverfälschungen wächst. Wo das in der Empfängerflächen-Gemeinde verfügbare Material nicht ausreichend ist und daher auf weiter ab liegende Spenderflächen zurückgegriffen werden soll, ist eine Abstimmung mit den Botanikexperten der Naturschutz-Fachbehörden notwendig.

Autochthonie – auch ein Thema für Gehölze

Die Aufforderung bzw. Verpflichtung, in der freien Landschaft autochthone Pflanzen zu verwenden, gilt natürlich auch für Gehölze. Prinzipiell sollten hier dieselben Grundsätze gelten wie bei Gräsern und Kräutern. Einige Arten von Sträuchern (besonders Wildrosen) und von kleinen Bäumen (besonders Mehlbeeren) sind beispielsweise genetisch so heterogen, dass man hier für Pflanzungen grundsätzlich nur Material vor Ort gewinnen sollte.

Für die Baum- und Straucharten fehlt aber noch eine Liste, die angibt, welche in den einzelnen Herkunftsregionen flächendeckend verbreitet und dort allgemein verwendbar sind. Auch das Angebot an autochthonen Pflanzen durch Baumschulen ist in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Jedoch gibt es bereits Anbieter mit längerer Erfahrung in dem Gebiet, z. B. in Bayern die Erzeugergemeinschaft für autochthone Baumschulerzeugnisse (EAB; www.autochthon.de)

¹ Das Bundesnaturschutzgesetz trägt dem Rechnung, indem es in § 4 Abs. 4 unter anderem festlegt, dass „das Ausbringen von Pflanzen gebietsfremder Arten in der freien Natur“ außerhalb der land- oder forstwirtschaftlichen Nutzung einer Genehmigung bedarf. „Art“ ist dabei in § 7 Abs. 2 definiert als „Art, Unterart oder Teilpopulation einer Art oder Unterart“. Es geht damit letztlich um die Förderung regionaler Herkünfte. Dazu dient auch eine zusätzliche Vorschrift in § 4 Abs. 4, der zufolge Gehölze und Saatgut „außerhalb ihrer Vorkommensgebiete“ und damit bestimmter Herkunftsregionen nicht ausgebracht werden sollen bzw. ab 2020 nicht ausgebracht werden dürfen.

² Viele bevorzugen statt „autochthon“ den allerdings leichter missdeutbaren Begriff „gebietsheimisch“.

³ Siehe Internetseite: https://regionalisierte-pflanzenproduktion.de/

Weitere Informationen finden Sie auch unter „Insektenfreundliches Grünland“, „Anlage und Pflege von Licht- und Magerrasen“, „Blühende Wildwiesen“ „Anspruchsvolle Begrünungen mittels Rechengut“ und „Schaffung artenreicher Wiesen durch Mähgutübertragung“.

Dr. Willy Zahlheimer
Regierung von Niederbayern
SG 51 Fachfragen Naturschutz
Regierungsplatz 540
84028 Landshut
willy.zahlheimer@reg-nb.bayern.de

Frühling

Artenzusammensetzung Blühende Landschaft
Augen auf beim Nisthilfenkauf
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Kostenlos abgerufen von: https://bluehende-landschaft.de/handlungsempfehlung/naturgemaesses-saat-und-pflanzgut